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Dino Paternostro ist Journalist und Gewerkschafter und seit langem eine der zentralen Personen der Anti-Mafia-Bewegung auf Sizilien. Wir haben uns mit ihm im Büro der CGIL in Corleone getroffen.

„Gewöhnlich wird gesagt, die Anti-Mafia-Bewegung sei nach den verhängnisvollen Ereignissen im Jahr 1992 entstanden. Aber das stimmt nicht. Wir haben in Sizilien eine Bewegung gegen die Mafia, die so alt ist, wie die Mafia selbst: Die sizilianische Anti-Mafia ist direkt nach der Mafia entstanden, als Reaktion der Zivilgesellschaft auf die mafiöse Organisation. Die Anti-Mafia-Bewegung war zu Beginn eine Bewegung der Landarbeiter Gegen Ende des 19. Jhdts., zwischen 1892 und 1894, waren etwa 4.000 Landarbeiter in  den „Fasci Siciliani“ organisiert und kämpften für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen. Die Mafia stand dagegen auf der Seite der Großgrundbesitzer und verteidigte die bestehenden sozialen Verhältnisse. So entwickelte sich aus der Bewegung der rebellierenden Landbevölkerung die erste Anti-Mafia-Bewegung.
In Corleone gab es zum Beispiel einen der ersten Führer dieser Bewegung, Bernardino Verro. 1914 wurde er der erste sozialistische Bürgermeister von Corleone. Aber schon ein Jahr später, am 3. November 1915, wurde er von der Mafia ermordet. Das war einer der ersten politisch motivierten Anschläge der Mafiosi auf eine Person der Öffentlichkeit, einen Repräsentanten des Staates.
Aber die Landarbeiterbewegung existierte auch nach dem 1. Weltkrieg fort. Nach dem 2. erkämpfte sie erfolgreich eine Bodenreform mit einer Serie von Kämpfen, die vorangetrieben wurden von Leuten wie Placido Rizzotto, dem Sekretär der Arbeitskammer von Corleone. Auch er wurde von der Mafia ermordet.
Die Landarbeiterbewegung, die sich in all diesen Kämpfen geformt hat, hatte also immer den Charakter einer Anti-Mafia-Bewegung; aber mehr als aus ethischen Gründen, aus dem Verfolgen der eigenen Interessen: Eben weil die Mafia auf Seiten der Großgrundbesitzer stand und gegen die Emanzipation der Landarbeiter war, waren die Landarbeiter gegen die Mafia.
Um eine starke Anti-Mafia-Bewegung zu entwickeln, die viele Menschen auf ihrer Seite hat, reichen ethische Überlegungen nicht aus. Moralische Entrüstung, z.B. über ein bekanntes Opfer, dauert einen Tag, einen Monat, vielleicht ein Jahr. Dann hört sie auf. Wenn die Bewegung es aber schafft, die legitimen, vernünftigen und demokratischen Interessen den illegitimen und ungerechten gegenüberzustellen, wird sie stabil und strukturiert und kann  vielleicht sogar die Niederlage der Mafia und damit eine gerechtere und freiere Gesellschaft erringen.
Ebenso charakteristisch für die sizilianische Landarbeiterbewegung ist der kooperative Gedanke. Das hat schon mit Bernardino Verro angefangen. Er hat als einer der ersten  genossenschaftliche Strukturen für die Emanzipation der Landarbeiter geschaffen. Eine der frühen Kooperativen, die Berhardino Verro am Ende des 19 Jhdts. mit gründete, war eine Konsumgenossenschaft. Man benutzte die Form der Genossenschaft, um  Grundversorgungsmittel wie Brot und Pasta in großen Mengen zu günstigeren Preisen kaufen und an die  Landarbeiterfamilien weitergeben zu können. Das war eine beträchtlich Hilfe für die arme Landbevölkerung. Die Kooperation wurde also von den sozialistischen Landarbeitern als Emanzipation verstanden, als Befreiung von der Not und die Kooperative als eine Art kollektiver Arbeitgeber. Denn der einzelne Arbeitgeber unterdrückte die Landarbeiter und die Idee war, sich zu Kooperativen zusammenzuschließen, sodass sie zugleich Arbeiter und ihre eigenen Arbeitgeber sein konnten. Eine hervorragende Idee. Zweifellos hätte die Bewegung der Kooperativen in Sizilien eine ebenso starke positive Wirkung haben können wie in der Toskana, der Emilia-Romagna, in Umbrien, wenn sie nicht mit dem Zorn der Mafia, der Grundbesitzer und wichtigen Teilen des Staates konfrontiert gewesen wäre. Denn warum haben sich die Kooperativen hier nicht durchgesetzt, aber in der Toskana und der Emilia-Romagna? Nicht, weil die Menschen in Sizilien größere Trottel wären als die in der Toskana, sondern, weil es dort keine Mafia gab. Denn die Mafia hat genau verstanden, dass die Kooperation ein Instrument ist, das sie in größte Schwierigkeiten bringen würde. Zum Beispiel die mafiösen Gabellotti, sie nannten sich Gabellotti, weil sie von den Großgrundbesitzern riesige Landgüter pachteten und dann aufteilten und stückchenweise an die Landarbeiter weiterverpachteten. Berardino Verro war einer der ersten, der verstand, dass man dieses System aufbrechen musste, nämlich durch den Aufbau von Kooperativen, die große Stücke Land direkt vom Grundbesitzer pachten und so den mafiösen Gabellotto umgehen. In Corleone hatte die von Verro mitbegründete Kooperative Unione Agricole für einige Jahre Erfolg und pachtete 5 oder 6 Landgüter mit einigen tausend Hektar Boden. Aus Rache gab es schon 1910 das erste Attentat auf Verro, das er jedoch glücklicherweise überlebte.
Nach dem 2. Weltkrieg war es dieselbe Geschichte. Wieder wurden Kooperativen gegründet in der Hoffnung, Land zugewiesen zu bekommen und von diesem Land anständig leben zu können. Aber gegen die in den Kooperativen zusammengeschlossenen Landarbeiter standen nicht nur die Mafiosi, die in 15 Jahren mehr als 50 Gewerkschaftsmitglieder ermordeten: geplante und methodische Verbrechen, um zu verhindern, dass die Kooperativen eine Bedeutung erlangten, nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch und sozial. Gegen die Landkooperativen agierte aber auch der Staat. Die Democracia Cristiana gewann die Wahlen von 1948 und wollte die eigene Macht konsolidieren. Dazu versuchte sie den genossenschaftlichen Bereich aufzulösen. Als die Agrarreform durchgesetzt wurde, wollte die Linke den Boden den Kooperativen zuteilen. Die Democracia Cristiana, die die absolute Mehrheit im sizilianischen wie im nationalen Parlament hatte, setzte hingegen durch, dass der in der Agrarreform konfiszierte Boden durch Los an einzelne Bauern verteilt würde. Während also tausende von Hektar durch Los an Einzelne vergeben wurden, lösten sich die freiwilligen kooperativen Zusammenschlüsse auf. Das war ein schwerer Schlag gegen die Kooperation in Sizilien, ausgeführt auf legalem Weg, mit legalen Methoden vom Staat beschlossen. Die Landreform wurde schließlich umgesetzt, aber gleichzeitig war die Bewegung der Landarbeiter am Ende. Viele Landarbeiter emigrierten, nach Norditalien, nach Deutschland, Frankreich usw. Unsere Region verblieb also in den Händen der mafiösen Bourgeoisie, den Mafiosi wie Toto Reina oder Bernardo Provenzano, die jetzt frei waren: weil sie keinen gesellschaftlichen Antagonisten mehr hatten. Die Landarbeiterbewegung war aufgelöst, die Contadini ins Ausland gegangen. Und so konnten sie sich die besten Ländereinen aneignen. Wenn du zum Beispiel heute über das Land fährst, siehst du, dass der Boden, der jetzt den Anti-Mafia-Kooperativen zugesprochen wurde, also das ehemalige Land der Mafia, der beste und fruchtbarste Teil dieser Gegend ist. Das ist heute das Glück der Anti-Mafia-Kooperativen. Aber auf der anderen Seite zeigt es, dass die Mafiosi sich damals die besten Stücke geschnappt haben.
Hinter dem Gesetz, das heute die Enteignung der Mafiosi ermöglicht steht eine wichtige Person der Politik, Pio La Torre. Nach der Ermordung Placido Rizzottos kam La Torre nach Corleone, um mit den Contadini den Kampf für die Agrarreform zu organisieren. Er kannte die Contadini, die Verhältnisse auf dem Land und er kannte die Mafia, und er wußte, wie man die Mafia schlagen konnte. Und das hat er auch später nicht aus den Augen verloren, als er für die PCI im italienischen Parlament saß und Teil der Anti-Mafia-Kommision war: „Wir müssen den Mafiosi das Geld wegnehmen, den Reichtum. Wenn sie ins Gefängnis kommen, stört sie das nicht.“ 3 oder 4 Jahre, das war für Mafiosi das, was für Studenten die Spezialisierung nach dem Studium ist. Ein wirklicher „Ehrenmann“ wird erst der, der wenigstens einmal in seiner Laufbahn im Knast gesessen hat. Natürlich schweigend, also ohne mit den Behörden zu kollaborieren. Pio La Torre hatte also verstanden, dass es wichtig war, sie ökonomisch zu schädigen, ihnen den illegal angehäuften Reichtum zu nehmen. Nach seiner Ermordung und dem Attentat auf Alberto Dalla Chiesa wurde 1982 das berühmte Gesetz Rognogni-La Torre erlassen, das die Konfiszierung des Eigentums von Mafiosi ermöglicht, aber vor allem zum ersten Mal in der italienischen Geschichte die Mafia und die Mitgliedschaft in der Mafia als Straftat verurteilt. Vorher konnten Mafiosi als solche gar nicht, sondern nur wegen einzelner Taten verfolgt werden, also wegen Mord oder Diebstahl; mit diesem Artikel 416b des Strafgesetzes jedoch wird die bloße Zugehörigkeit zur Cosa Nostra mit mindestens 5 Jahren Haft bestraft. Eine Revolution! Ein solches Gesetz hatte es bis dato nicht gegeben. In der juristischen Geschichte Italiens hatte man sich immer gefragt, ob ein Gesetz überhaupt möglich sei, das Mafiosi als solche unter Strafe stellt. Intellektuelle hatten sich gefragt, was es denn eigentlich bedeute, Mafioso zu sein, ob es sich dabei nicht eher um ein geistiges und typisch sizilianisches Phänomen handele, da die Sizilianer, ein ehrenhaftes Volk, mit ihrem aufbrausenden Charakter eben keine Erniedrigungen erdulden könnten. Aber die Mafia ist nicht einfach eine Haltung, sondern eine kriminelle Organisation. Sie hat eine Struktur, eine Organisation von Chefs und Unterchefs, alles das wurde aufgedeckt, aber das war auch schon vorher bekannt, nur wurde immer vorgegeben, über die Hintergründe nichts zu wissen.
Diese Gesetz ermöglicht nun also auch die Konfiszierung unrechtmäßigen Besitzes. Und dabei ist bedeutend, dass diese Gesetz mit der rechtlichen Tradition in Italien bricht, in der die Aufklärungspflicht stets auf der Seite der Anklage liegt. Für die Konfiszierung liegt die Beweispflicht nun entgegengesetzt auf der Seite der Beschuldigten. Das heisst, der Staat sagt dem Mafioso: Du musst den legalen Erwerb deines Besitzes nachweisen, sonst wird er konfisziert. Und das ist wichtig, denn in der der Welt der Mafia ist es immer schwierig, die Wege des Geldes zu verfolgen. Wenn also ein Angeklagter nachweisen kann, das er Geld von einer Tante in Amerika geerbt und sich davon ein Haus gekauft hat und dazu auch die Belege der Bank hat, ist alles in Ordnung. Wenn er aber die legale Herkunft von 200.000€ für den Kauf seines Hauses nicht belegen kann, wird es konfisziert.
Diese Gesetz war also ein Wendepunkt. Was aber ungelöst blieb: Wenn der Staat Besitz konfiszierte, blieb er ungenutzt. Und beim Anblick des ungenutzten Landes, der  leerstehenden Häuser oder Produktionsanlagen sagten die Leute, auch die Aufrichtigen: „Als die Mafiosi das noch hatten, haben sie einem wenigstens Arbeit gegeben, wenn auch nicht ganz legal. Aber der Staat schafft keine Arbeit, er kann nur bestrafen.“
Um auf diese Problematik zu antworten, wurde auf Initiative der Vereinigung Libera von Luigi Ciotti mitte der 90er Jahre das Gesetz 109/96 erlassen. Ein wichtiges Gesetz, auch weil der Gesetzesentwurf nicht von einem Parlamentarier, sondern von einer Million Menschen eingebracht wurde, die die Petition unterschrieben haben. 200 Unterschriften gab es allein in Corleone; das waren sehr wichtige Stimmen, wenn man bedenkt, dass vor 10 Jahren die Bosse wie Provenzano noch frei waren.
Jedenfalls hat das Parlament dieses Gesetz verabschiedet, das die Vergabe des konfiszierten Besitzes für soziale Zwecke regelt. Das war ein wichtiger Moment, der auch die Gründung jener neuen Kooperativen ermöglichte. Diese Kooperativen sind die Kinder dieses Gesetzes, ihnen wurden konfisziertes Ackerland, Häuser und Werkstätten übertragen, und diese“beni“ können sie nutzen, um 'saubere' Arbeit zu schaffen und 'saubere' Produkte herzustellen. Produkte mit dem sogenannten 'Vitamin L' der Legalität. Diese Kooperativen sind also die Erben der Landarbeiterbewegung, die seit dem19. Jahrhundert und nach dem 1. und 2. Weltkrieg die Kooperation als den Weg sah, der eine Perspektive auf eine gerechte und demokratische Entwicklung öffnen sollte.
Inzwischen sind die Kooperativen mit den Grenzen der Gesetze konfrontiert und mit den alltäglichen Problemen, aber diese Grenzen und Probleme, kann man angehen und überwinden. Das Wichtige ist aber, dass sich in Italien die Idee durchgesetzt hat, dass die konfiszierten Güter dem Nutzen der Menschen zugute kommen, denen sie zuvor von der Mafia auf illegitime Weise genommen wurden, dass diese Güter genutzt werden, um Arbeitsplätze zu schaffen und Entwicklung zu ermöglichen.
Um die negativen Erfahrungen der Vergangenheit, die Grenzen der 50er Jahre zu überwinden, denken wir heute, dass es nötig ist, eine Vielzahl von „normalen“ Kooperativen zu gründen, um ein Netzwerk mit den Anti-Mafia-Kooperativen aufzubauen. So wäre es möglich, Stück für Stück eine legale Ökonomie aufzubauen, die zu einem großen Teil auf der Kooperation gründet. Unsere Zuversicht hängt auch zusammen mit der Absicht der Confindustria, sich von dem „Spiel des Pizzo“ zu befreien, also keine Schutzgelder mehr zu zahlen. Das hilft uns sehr, denn eine solche Ankündigung hat es bis jetzt nicht gegeben. Wenn also Schritt für Schritt die Ökonomie Siziliens sich von dieser ungerechten Steuer, dem Pizzo an die Mafia, befreien könnte, eine Steuer, die ökonomisch schwer wiegt, aber auch vom politischen, vom sozialen und psychologischen Standpunkt her.
Ich bin überzeugt, dass es dieses Mal, wenn der Staat nicht stehen bleibt und die Zivilgesellschaft sich weiter organisiert, dass dieses möglicherweise der Moment sein wird, an dem sich der Satz von Falcone bewahrheiten könnte: „Die Mafia ist ein geschichtliches Phänomen. Und wie alle geschichtlichen Phänomene hat es einen Anfang und wird es ein Ende haben.“ Hoffen wir, wissen können wir es nicht, dass wir in der Epoche leben, in der die Mafia besiegt wird: Vor 200 Jahren ist sie entstanden, hat 200 Jahre existiert und lauter Katastrophen angerichtet; aber in einem bestimmten Moment haben sich Staat und Zivilgesellschaft durchgesetzt und die Mafia zu Beginn des 3. Jahrtausends besiegt. Das wäre gut.“

Nach dem Gespräch zeigt uns Dino Paternostro im Versammlungsraum die Fotos seiner Vorgänger als Vorsitzende der CGIL von Corleone. Mehr als die Hälfte von ihnen wurde von der Mafia ermordet.

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Antimafia-Kooperativen, Sizilien

Dino Paternostro, CGIL, Corleone