Jarmark Europa

 

Kaleria Michajlowna ist in ihrer Heimatstadt Penza, 700 km südöstl. von Moskau, eine geachtete und bekannte Persönlichkeit. Sie war Leiterin der Poliklinik. In dieser Position gehörte sie zur politischen Elite ihrer Stadt. Für sie und ihre Generation wirkt der Schock des Zerfalls der SU und des ganzen Systems noch nach. Die Intelligenzia, die innerhalb des Systems gearbeitet hat, hat von der Perestroika nicht profitiert, im Gegenteil.

Jetzt ist Kaleria Rentnerin. Einmal alle zwei Monate reist sie mit ihrer Freundin Valentina nach Warschau. Dort verkauft sie gebrauchte Uhren, Päckchen mit Vanillin, Henna, Pfeffer, Kugellager, Putzschwämmchen - alles, was in Penza so gut wie nichts kostet und sich deshalb mit Gewinn in Polen verkaufen lässt.

 

Swetlana Anatoljewna kommt aus Brest, der Grenzstadt zwischen Weißrußland und Polen. Nachdem sie im Zuge der Perestroika ihre Stelle als Musiklehrerin verloren hatte, versuchte sie zunächst, wie so viele andere auch, mit dem grenzüberschreitenden Kleinhandel nach Polen ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Um sich die Langeweile beim Warten auf Kundschaft zu vertreiben, hat sie gelesen. Langeweile macht einen großen Teil der Arbeit auf dem Basar aus. Die anderen Händler haben sich mehr für ihre Bücher interessiert, als die Polen für ihre Waren. Und so kam sie auf die Idee aus ihrer Leidenschaft ein Geschäft zu machen und eröffnete einen Kiosk auf dem „Jarmark Europa“ mit einer großen Auswahl an russischer zeitgenössischer Literatur, Klassikern, Unterhaltungsromanen, russischer Musik und Videofilmen, die sie nicht nur verkauft, sondern auch verleiht. Ihre Bibliothek auf dem Basar hat sich zum lukrativen Dienstleistungsunternehmen für tausende von russischsprachigen Händlern und Händlerinnen entwickelt, die von fünf Uhr morgens bis mittags um zwölf arbeiten und den Rest des Tages in engen Unterkünften die Zeit totschlagen müssen.

 

Der Film begleitet Kaleria und Swetlana auf ihren Reisen, zuhause und auf dem Basar, und betrachtet die Auswirkungen der Osterweiterung der EU aus der Sicht der wirklich Betroffenen, nämlich derjenigen, die draußen bleiben.

Neben den konkreten Bildern über den Weg der Waren in den Taschen meiner Protagonistinnen, habe ich mich entschlossen, im Film offenzulegen, wo die Grenzen waren und von den nicht gemachten Bilder zu erzählen, und so die Entstehungsbedingungen des Films mit einzubeziehen. Daraus hat sich eine Arbeitsweise entwickelt und daraus letztlich die Form des Films. Eine Form, in der die nichtgemachten Bilder so wichtig sind wie die gemachten, in der Bilder durch Worte entstehen, während die Leinwand schwarz bleibt, oder der Text von etwas erzählt, von dem die Bilder nichts wissen.

 

Diese nichtgemachten Bilder habe ich vor Augen, wenn ich mich erinnere. Was ich aufgenommen habe, ist gleichsam abgelegt und damit vergessen. Die Bilder, die ich nicht gemacht habe, sind leuchtender und kraftvoller als alles, was ich jemals hätte machen können.“